Jugendkriminalität

Jugendkriminalität
Ju|gend|kri|mi|na|li|tät 〈f. 20; unz.〉 Kriminalität der Jugendlichen

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Ju|gend|kri|mi|na|li|tät, die:
Gesamtheit der kriminellen Handlungen, die von Jugendlichen begangen werden.

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I
Jugendkriminalität,
 
Sammelbezeichnung für die der Polizei bekannt gewordenen und vom Bundeskriminalamt in Jahresstatistiken erfassten Straftaten, die nachweislich von Jugendlichen und Heranwachsenden begangen wurden.
 
Im Gegensatz zu der häufig publizierten Behauptung, die kriminelle Betätigung Jugendlicher und Heranwachsender steige ständig, belegen die Angaben des Statistischen Jahrbuchs 1995 allerdings einen Rückgang der Zahl rechtskräftig Verurteilter aus den beiden Altersgruppen um rund 15 % zwischen 1989 und 1991. Ebenso lässt sich der behauptete hohe Anteil der Jugendlichen und Heranwachsenden bei den Deliktgruppen Diebstahl und Gewaltkriminalität statistisch nicht nachweisen; die Gesamtzahl der Verurteilten ist in diesem Bereich zwischen 1989 und 1991 bei Jugendlichen um rund 10,8 %, bei Heranwachsenden um rund 7,9 % zurückgegangen. Der Anteil junger Mädchen und Frauen lag 1991 bei etwa 10 % der gesamten Jugendkriminalität.
 
Bezüglich der Ursachen der Jugendkriminalität besteht keine theoretische Übereinstimmung. Die früheren biologistischen Erklärungsansätze (körperlich begründete Abweichung, zu rasches Wachstum, »Pubertätskrise« oder mangelnder Einklang zwischen körperlich-intellektueller und sozial-emotionaler Entwicklung) haben sich nicht bestätigen lassen und müssen in ihrer eindimensionalen Zuschreibung als überholt gelten.
 
Aus der Fülle der neueren Ansätze seien herausgehoben: 1. Der psychoanalytische Ansatz wertet Kriminalität als Resultat einer pathologischen Charakterstruktur aufgrund gestörter Prozesse (besonders der Identifikation und Gewissensbildung) in der frühkindlichen psychosexuellen Entwicklung. 2. Der sozialisationstheoretische Ansatz führt Kriminalität auf schichtenspezifisch unterschiedliche Sozialisationsprozesse zurück. 3. Der sozialstrukturelle Ansatz sieht in der Kriminalität das Ergebnis pathologischer Sozialstrukturen der Industriegesellschaft, die bei den Jugendlichen Desorientierung zur Folge haben. 4. Der interaktionistische Ansatz fasst Kriminalität als Interaktionsvorgang zwischen Individuum und Gesellschaft auf, bei dem kriminelles Verhalten von den Trägern der öffentlichen sozialen Kontrolle als abweichend definiert, zugeschrieben und damit stigmatisiert wird. 5. Der sozialpsychologische Ansatz versteht Kriminalität als Kriterium gesellschaftlicher Wert-, Vergeltungs- und Ordnungsnormen. 6. Der marxistische Ansatz sieht in der Kriminalität den Ausdruck proletarischen Protests gegen die bürgerliche Gesellschaft.
 
Die heutige Jugendkriminalitätsforschung befasst sich verstärkt mit den Zusammenhängen zwischen Jugendarbeitslosigkeit, Drogenabhängigkeit, Ausbildungsproblemen, elterlichen Erziehungsstilen (Erziehungsstil), »Scheidungswaisentum«, wachsender materieller Orientierung sowie Perspektivlosigkeit und Jugendkriminalität. Dabei ist deutlich geworden, dass es sich bei den meisten ermittelten jugendlichen Straftätern um eine Episodenjugendkriminalität handelt, diese also später nicht mehr straffällig werden. Andererseits nimmt die Mehrzahl »krimineller Karrieren« bereits in der Jugend, mitunter schon im Kindesalter, ihren Anfang.
II
Jugendkriminalität,
 
Gesamtheit des strafrechtlich missbilligten Verhaltens Jugendlicher (nach dem deutschen Jugendstrafrecht zur Tatzeit 14- bis 17-Jähriger) und Heranwachsender (18- bis 20-Jähriger Erwachsener), in Abgrenzung zur Kriminalität strafunmündiger Kinder (Kinderkriminalität) und strafrechtlich so genannter Vollerwachsener (ab vollendetem 21. Lebensjahr). Weiter gefasst ist der in Anlehnung an den angelsächsischen Sprachgebrauch (englisch juvenile delinquency) verwendete Begriff Jugenddelinquenz, in den zum Teil auch die Kriminalität über 21-Jähriger bis ins 3. Lebensjahrzehnt einbezogen wird, da die starren, nach Zeit und Ort unterschiedlichen gesetzlichen Altersgrenzen entwicklungspsychologisch und soziologisch nicht zwingend sind und auch Taten älterer Täter jugendtypisch sein können.
 
In absoluten Zahlen gemessen und auch in Relation zur statistisch erfassten Gesamtkriminalität ist in den letzten Jahrzehnten insgesamt ein Anstieg der amtlich registrierten Jugendkriminalität (»Hellfeld«) zu verzeichnen, wenngleich sich dieser keinesfalls kontinuierlich vollzog und auch Perioden des Rückgangs zu erkennen sind. Etwa jeder fünfte der polizeilichen Tatverdächtigen ist 14 bis 21 Jahre alt; der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtkriminalität überwiegt nach der polizeilichen Kriminalstatistik leicht den der Heranwachsenden. Eine Sondersituation mit überproportionalem Anstieg der Jugendkriminalität ergab sich wohl v. a. aufgrund der eingetretenen Werteunsicherheit nach der deutschen Wiedervereinigung im Beitrittsgebiet.
 
Während die Kriminalitätsbelastung bei Männern im Alter von 18 bis 21 Jahren ihren Höchststand erreicht, nimmt sie mit zunehmendem Alter stetig ab. Die Kriminalität junger weiblicher Tatverdächtiger stellt eine geringe Quote (Deutschland 1995: rd. 23 % der Jugendlichen, 17 % der Heranwachsenden) der Jugendkriminalität und ist weniger schwer. Vor Straßenverkehrsdelikten bilden Diebstähle (oft Laden-, Kfz-Diebstahl) den weit überwiegenden Teil der Jugendkriminalität. Der Anteil der Gewaltkriminalität ist dagegen zahlenmäßig von geringerer Bedeutung. Vergleichsweise hoch und in den letzten Jahren noch gestiegen ist der Anteil von jungen Tätern an den registrierten Raubdelikten (Deutschland: 1992 rd. 40 %, 1995 rd. 47 % aller Raubdelikte).
 
Als Beweggründe werden von den jungen Tätern selbst Leichtsinn, Übermut, Abenteuerlust, Neugier, Sport, Rauflust u. Ä. genannt; bewusst oder unbewusst spielen oft Konsumorientierung, Streben nach Prestige, Statussymbolen, Anerkennung, Zugehörigkeit zu einer (Bezugs-)Gruppe von Gleichaltrigen (Peergroups) eine Rolle. Letzteres weist darauf hin, dass Jugendkriminalität häufig eine Kriminalität von Gruppen ist, ohne die bestimmte Formen der Jugendkriminalität kaum vorstellbar erscheinen und die auch die Deliktsbegehung vielfach eine gemeinschaftliche sein lässt. Hierzu sind Kollektivformen des Drogenkonsums (Beschaffungskriminalität), Ausschreitungen bei Demonstrationen und gewaltsame Hausbesetzungen zu zählen, in denen sich jugendtypische Kompromisslosigkeit, aber auch Flucht, Rückzug und Protest dokumentieren. Jugendkriminalität ist in Ausführungsart und Folgen insgesamt weniger schwer als Erwachsenenkriminalität; sie ist zumeist spontan, auf Nachahmung professioneller Verbrechen angelegt.
 
Die Dunkelfeldforschung hat als Kennzeichen der Jugendkriminalität ihre Ubiquität (Allgegenwart) ermittelt, wobei die Begehung harmloser Delikte eine normale, auch ohne strafende Eingriffe vorübergehende Erscheinung in der Entwicklung eines jungen Menschen sei, wie überhaupt Jugendkriminalität selbst bei Mehrfachtätern oft nur episodenhaften Charakter habe. Daraus folgt, dass es nicht bei jeder Verletzung einer Strafnorm einer erzieherischen oder gar strafenden staatlichen Einwirkung, sondern oftmals lediglich einer Normverdeutlichung bedarf. Dieser Erkenntnis tragen Rechtslehre und -praxis bei jungen Tätern mit einer möglichst frühzeitigen und informellen Verfahrensbeendigung (Diversion) Rechnung. Obwohl im Bereich der Jugendkriminalität wenige für einen großen Teil der Delikte verantwortlich sind, bedeutet auch mehrfache Straffälligkeit nicht zwangsläufig, sondern nur für eine Minderheit der jungen Täter das Abgleiten in eine kriminelle (Lebens-)Karriere.
 
Die Frage nach den Ursachen der Jugendkriminalität lässt sich nicht eindeutig beantworten. Kriminologische Untersuchungen halten das Zusammenwirken vieler Faktoren für möglich, die den jungen Täter an einer kriminalitätsfreien Identitätsfindung und sozialen Entwicklung hindern: Gestörte oder unvollständige Familien (Broken Home), Wertewandel in einer übersättigten Konsumgesellschaft, Sozialisationsdefizite infolge schulischer Unterqualifikation, mangelnde Leistungsmotivation, Fehlentwicklungen des modernen Städtebaus, kulturelle Entwurzelung (besonders bei jungen Ausländern der zweiten Generation), Arbeitslosigkeit und Fehlen sinnvoller Freizeitbeschäftigung, subjektives Gefühl von Lebensleere. (Jugendstrafrecht)
 
 
M. Walter: J. Eine systemat. Darstellung (1995);
 A. Böhm: Einf. in das Jugendstrafrecht (31996).

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Ju|gend|kri|mi|na|li|tät, die: Gesamtheit der kriminellen Handlungen, die von Jugendlichen begangen werden.

Universal-Lexikon. 2012.

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